Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur „10. Europa-Rede“ der Konrad-Adenauer-Stiftung am 8. November 2019 in Berlin

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Lieber Norbert Lammert,
liebe Ursula von der Leyen, Kommissionspräsidentin elect – gewählt, wie eben schon gesagt wurde –,
lieber Hans-Gert Pöttering,
lieber Wolfgang Schüssel,
liebe Abgeordnete,
liebe Gäste,

ich freue mich, am Vorabend des 9. November hier zu sein. Morgen ist es 30 Jahre her, dass sich die Mauer öffnete. Interessant ist, dass ich mich noch erinnern kann, dass ich einen Tag vor diesem Ereignis, also heute vor 30 Jahren, nicht damit gerechnet hatte, dass das passiert. Ich glaube, ich war nicht die Einzige. Dennoch oder gerade deshalb war es ein Glücksmoment, den wir erleben konnten und mit dem sich sehr vieles veränderte. Deshalb ist es schön, dass die Konrad-Adenauer-Stiftung vor zehn Jahren die Tradition ins Leben gerufen hat, Europa und den Fall der Mauer mit der „Europa-Rede“ zu würdigen.

Europa konnte von der deutschen Einigung und dem, was vorher vonstattenging – mit der polnischen Solidarność, der Menschenkette in den baltischen Staaten, den Unterzeichnern der Charta 77 und den Reformern in Ungarn – nicht nur profitieren, Europa konnte endlich wieder zusammenwachsen.

Europa als Friedensgemeinschaft – dieses europäische Projekt hat ja nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen. Die Römischen Verträge waren einer auf rein nationale Interessen beschränkten Politik nachgefolgt. Das Konzept von Zusammenarbeit und Integration wurde das herrschende Konzept, verbunden – wie Norbert Lammert eben sagte – damit, nationale Souveränität an eine neue Entität abzugeben. Manche Diskussion, die wir heute wieder führen über das Ob und Wie, erinnert uns daran, dass es ja alles andere als selbstverständlich ist, dass Menschen Macht an eine andere Institution abgeben. Und deshalb ist es ja auch so wichtig, dass diese Institution Vertrauen genießt.

Der Grundgedanke war, einen Rahmen festzulegen, um Interessen zu bündeln, Interessengegensätze der Mitgliedstaaten in geordneten Verfahren zu lösen und damit eine jahrhundertelange Phase immer wiederkehrender Krisen abzulösen. Es ist ein Wunder, aber auch ein Ausdruck der Kraft der Vordenker der europäischen Einigung, dass dieses Konzept aufging. Der europäische Einigungsprozess hat das Zusammenleben in Frieden und Freiheit, in Wohlstand und sozialer Sicherheit gefördert. Er hat es nach meiner festen Überzeugung möglich gemacht. Aber ich glaube, wir müssen uns auch dessen bewusst sein: So etwas gelingt, muss aber immer wieder neu erarbeitet werden. Es darf nicht zu einer Routine werden, sonst werden es zukünftige Generationen plötzlich nicht mehr verstehen.

Und ich stimme Norbert Lammert zu: Ohne konsequente europäische Einigung wäre die Wiedervereinigung Deutschlands nicht möglich gewesen. Helmut Kohl hat mit Recht immer wieder – alle, die ihn kannten und erlebt haben, wissen das; und ich habe mein politisches Rüstzeug, zumindest sehr viel davon, von ihm bekommen – von den zwei Seiten ein und derselben Medaille gesprochen. Wiedervereinigung und europäische Einigung sind untrennbar miteinander verbunden. Sich das wieder bewusst zu machen, ist wichtig, auch weil aus meiner Sicht auch heute gilt: Deutschland wird es nur gut gehen, wenn es Europa gut geht.

Nun, liebe Ursula, wirst du nach über 50 Jahren, in denen kein deutscher Kommissionspräsident da war, auch noch als erste Frau diese Kommission leiten. Dein Vorgänger, Jean-Claude Juncker, meinte letzte Woche in seiner unnachahmlichen Art, dass es nun an dir liege – ich zitiere –, „den Laden zusammenzuhalten“. Du übernimmst dieses Amt in wahrlich unruhigen Zeiten. Denn die 30 Jahre nach dem Mauerfall sind wieder ein Geschichtsabschnitt, in dem sich Dinge grundlegend verändern konnten.

Eigentlich erleben wir jeden Tag, dass die globale Ordnung doch eine andere wird. Wir sehen die Konturen sehr viel stärker. Wir haben auf der einen Seite evident große Herausforderungen – Klimawandel, asymmetrische Konflikte, die Frage von Flucht und Vertreibung –, die globales Handeln geradezu herausfordern, es nach meiner festen Überzeugung unabdingbar machen. Im Übrigen macht das auch eine vernünftige weltwirtschaftliche Ordnung in Zeiten der Digitalisierung erforderlich. Auf der anderen Seite ist die Welt in ziemlicher Unordnung. Die Ordnungsmuster des Kalten Krieges scheinen im Vergleich dazu geradezu überschaubar zu sein.

Die Multipolarität mit den sich verändernden Kräfteverhältnissen von heute hat Europa noch nicht abschließend seinen Platz in der Geschichte zugewiesen. Dass wir an vorderster Front wären, kann man nicht sagen. Das heißt, wir sind heute im globalen Konzert nicht allzu gut hörbar. Deshalb bin ich so froh – wenn ich das sagen darf – und unterstütze das aus vollem Herzen, dass du die neue Kommission als eine geopolitische Kommission skizziert hast und in diesem Rahmen dein Programm gestaltest.

Wir werden als deutsche Bundesregierung im zweiten Halbjahr des nächsten Jahres während unserer Ratspräsidentschaft auch versuchen, diese Ambitionen zu unterstützen. Dazu gehört, dass wir das Verhältnis zwischen der Europäischen Union und China zu einem Schwerpunkt machen und zum ersten Mal einen Vollgipfel abhalten werden, also alle Mitgliedstaaten und die europäischen Institutionen plus die chinesische Führung, den chinesischen Präsidenten, bei uns in Deutschland, in Leipzig, zu Gast haben werden, um dann zu versuchen, eine gemeinsame Antwort auf die Herausforderungen in den Beziehungen zu China zu finden, die wir heute als Mitgliedstaaten – das darf ich als Mitglied des Europäischen Rates sagen – noch nicht in hinreichender Form haben.

Wir haben auch die notwendigen Antworten zu finden – das wirst du gleich ausführlicher sagen – auf die Fragen der Digitalisierung, der künstlichen Intelligenz. Auch das große Thema Datensouveränität wird eine Rolle spielen. Was bedeutet es, die Würde des Menschen – um auch das deutsche Grundgesetz anzusprechen – in Zeiten der Digitalisierung zu wahren und trotzdem die technologischen Fortschritte mitzubestimmen?

Wir haben die riesige globale Herausforderung des Klimawandels. Europas Positionierung hierzu hast du vorgenommen. Du hast gesagt, wir müssen vorne mit dabei sein. Das wollen wir unterstützen.

Und wir haben die große Herausforderung von Migration und Flucht. Unsere Werte stehen auf dem Prüfstand. Ist all das, was wir in Sonntagsreden sagen, wirklich wahr? Wie können wir darauf reagieren? Wie können wir anderen helfen, damit nicht nur wir Wohlstand haben, sondern auch andere? Alle diese Fragen stellen sich in einer Zeit, in der ich den Eindruck habe, dass die Frage „Wie viel Kompromissbereitschaft können wir an den Tag legen?“ eine der wesentlichen Fragen geworden ist.

Wie viel Spielraum bekommen wir zum Beispiel als Regierungschefs von zu Hause mit, wenn wir zu einem Europäischen Rat fahren? Oft haben wir schon Parlamentsbeschlüsse im Gepäck. Wenn aber alle 27 – heute noch 28 – Mitgliedstaaten einander widersprechen, dann brauchen wir mit den Beratungen gar nicht erst zu beginnen. Also stellt sich die Frage: Wie kann ich die Kompromissbereitschaft – schlauere Menschen als ich sprechen von Ambiguitätstoleranz – stärken? Nur in einem Raum, der noch nicht überreguliert ist, lässt sich ein Kompromiss finden. Wenn alles festgelegt ist, kannst du auch keine Kompromisse eingehen.

Das ist vielleicht das, was mir am meisten Sorge macht: dass das Vertrauen in Europa oder schwindendes Vertrauen in Europa sich an einigen Stellen darin ausdrückt, dass die Spielräume, die wir haben, um für Europa etwas zu tun, kleiner werden. Das ist eine nationale Aufgabe; und diese nationale Aufgabe gelingt umso besser – und deshalb freue ich mich jetzt auf deine Rede –, je mehr Vertrauen wir in die Institutionen haben können, an die wir ja auch Souveränität abgeben. Als ich mir angeschaut habe, wie du diese Kommission zusammengestellt hast, habe ich festgestellt, dass das zwar ein bisschen rumpelig vonstattenging, wie überall im normalen Leben, aber auch, dass es, wie ich glaube, eine gute Kommission wird, die in den Inhalten neu gruppiert ist.

Ich wünsche dir von Herzen viel Erfolg und versuche, ein bisschen Kompromissbereitschaft mitzubringen, wenn wir uns beim Europäischen Rat treffen.

Herzlichen Dank.